Aus der Küche unserer Eltern | 1.09.04

Wir beschäftigen uns in der Primarschule mit den Pfahlbauern, den alten Römern und der Schlacht bei Morgarten, im Gymnasium behandeln wir die Weltkriege und vor knapp einem Monat wurde massenmedial das antike Olympia rekonstruiert. Doch warum zur Abwechslung nicht mal unsere jüngste Vergangenheit unter die Lupe nehmen? Dort erwartet uns Realsatire pur, und als Ausgangsmaterial muss man nur einen Blick in das Büchergestell der Eltern werfen. Ein paar Fallbeispiele.

Die Schweiz 1971 - Die coolste WG
Im Jahre 1971 gab das 1965 gegründete und heute leider nicht mehr existente Schweizerische Tiefkühlinstitut (STI) die erste Auflage seiner Broschüre "Tiefkühlen" heraus - ein Geniestreich.

"Die Tiefkühlung ist zu einem Bestandteil der modernen Ernährung geworden. Ohne diese schonende Frischhaltemethode würde es zunehmend schwieriger, die Konsumenten jederzeit mit frischwertigen Nahrungsmitteln zu versorgen. Aber nur zu oft fehlen den Hausfrauen die notwendigen Kenntnisse für die richtige Handhabung, oder sie sind sich der vielfältigen Möglichkeiten gar nicht bewusst, die ihnen die Tiefkühlung bietet."

Damit es also nicht am fehlenden Know-How scheitert, hat sich das STI "die Schulung aller Glieder der Tiefkühlkette und somit auch der Hausfrau" zur Aufgabe gemacht.

Neben der richtigen Technik zum Tiefkühlen der verschiedensten Produkte werden auch alle erhältlichen Geräte vorgestellt. Mein Favorit: Gemeinschaftsgefrieranlagen.

Willkommen in der Gefrier-WG
"Unterhalt und Pflege der Anlage sind nicht Sache des Mieters, doch muss er die Distanz zwischen Wohnung und Anlage in Kauf nehmen."

Gemäss Auskunft meiner Mutter haben die auch tatsächlich existiert, und bevor man in den Raum durfte, hatte man einen der vorhandenen Mäntel anzuziehen. Genial.

Nächstes Fundstück: Fleisch - das gesunde kräftige Nahrungsmittel

Leider undatiert, aber sicher älter als die Tiefkühlbroschüre ist der kleine Ratgeber des Verbandes Schweizer Metzgermeister. Der Ratgeber ist zeitlich wohl kurz nach dem 2. Weltkrieg einzuordnen, als Fleisch noch kein regelmässiger Gast auf den Esstischen war. So setzte sich der "Ausschuss für Werbefragen des Verbandes Schweizer Metzger" zusammen und informierte die Schweizer Hausfrau, wie auch sie günstig zu ihrem toten Tier kommt. Damals noch mit Vorbildcharakter: das Schweizer Militär.

Fleisch fürs Militär
"Auch das Militär braucht Fleisch als rationellen Energiespender."

Tja, heute gibt es Red Bull.

Zu guter Letzt: Werbung!

Ambrosia Speiseöl
Ambrosia Speiseöl - "Ersatzöle weise man energisch zurück"

Paidol - spart Butter und Milch
Paidol - "Sehr ausgiebig u. daher im Gebrauch billig."

Beide Anzeigen stammen aus "222 Rezepte - Kochbuch für die einfache Küche". Nein, nicht von Betty Bossi 2004, sondern von den Haushaltungslehrerinnen Blumer und Zulauf anno 1908.


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Kommentare
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Nett - und erinnert mich irgendwie an Good Bye Lenin! Warum wohl? ;-)

Kommentar von: Christian at 2.09.04 0:25

Tobi, was soll ich sagen - wieder mal genial! Und eigentlich kann ich nur hoffen, dass sich unsere Kinder auch mal herzhaft ueber uns und unsere vielen Gadgets lustig machen werden (vielleicht ueber unsere primitive Nutzung des Internets?)...

Zu Christian: Wie wahr... in einem Punkt muss ich dir aber Unrecht geben - ich will die DDR keineswegs beschoenigen, aber in der Schweiz wurde, wie wir oben nachlesen koennen, noch lange von "der Hausfrau" gesprochen, als andere - kapitalistische und kommunistische - Laender die zwei Worte (Haus und Frau) laengst zu trennen wussten.

Kommentar von: Judge Jonathan at 2.09.04 12:17

Das mit den Geminschaftskühlfächern hat es bei uns auch noch gegeben. Ich kann mich noch gut erinnern wie da immer das Thema war, das andere Leute da eine Sauerei hinterlassen würden und Brosamen auf das eigene Tiefkühlgut streuen würden etc.. Wir haben dann der Sache ein Ende gesetzt in dem wir Grossmutter eine Tiefkühltruhe gekauft haben. Das war auch in den siebziger Jahren.
... und: Ich weiss nicht, ob diese Anlage noch in Betrieb ist, aber in Watt (ZH) gibt es an der grossen Kreuzung ein kleines Häuschen wo "Gemeinschafts Tiefkühlanlage" oder so ähnlich steht.

Kommentar von: PeetTheEngineer at 3.09.04 0:04
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